Voll Bart, oder?

Voll Bart,oder?

Foto: Maloja

Früher auf der Alm war’s vielleicht ganz normal. Kein Netz, an das man den elektrischen Rasierer anstecken konnte. Nur kaltes Wasser. Und sowieso keiner, der sich über die vermeintliche Ungepflegtheit hätt aufregen können. Aber mittlerweile sieht man ihn in fast jeder coolen Werbekampagne und gehäuft auf den Straßen der Metropolen: den Vollbart. Der trendige Mann von heute zeigt sich mit üppiger Haarpracht im Gesicht, die weit über die übliche Drei-Tages-Bart-Geschichte hinausgeht. Das entfacht heiße Diskussionen unter den Damen.

Die meisten finden die haarige Angelegenheit ungewöhnlich, verwegen, spannend, cool und auch sehr männlich. Bei den anderen Männern versteht sich. Wenn es um ihre eigenen geht, sieht die Sache schon wieder anders aus. Kratzig, unhygienisch, störend beim Küssen und überhaupt – so fielen in dem Fall die Kommentare aus.

Wesentlich spannender als das Urteil der Damen ist aber die Frage, woher dieser Trend jetzt eigentlich kommt und ob er Rückschlüsse zulässt auf die Rolle der Geschlechter. Die ist ja seit der Emanzipation etwas durcheinandergeraten und hat viele ratlose Männer zurückgelassen, die ihren Platz zwischen all den starken, selbständigen und selbstbewussten Frauen nicht immer mit Erfolg suchten. Eine Zwischenlösung muss man jetzt im Nachhinein sagen war lange Zeit der metrosexuelle, der androgyne Mann, der sich nicht scheut, seine weiblichen Züge zu zeigen, der verständnisvoll ist, der auch mal weint, der mit zum Shoppen kommt, der im Haushalt mit anpackt, der auf sein Äußeres achtet  und sich nicht nur im Gesicht rasiert. Eigentlich der schlanke fast schon schmächtige Dior Homme-Mann, der meilenweit entfernt war von den Muskelpaketen und Machos der 80er-Jahre. Den verweichlichten Typen fanden wir süß, cool und begehrenswert ohne zu merken, dass uns eigentlich schon die ganze Zeit was fehlt. Der Mann, das Männliche, die starke Schulter, das Testosteron. Das Hormon fördert nicht nur das sexuelle Verlangen, Antrieb, Ausdauer, dominante Verhaltensweisen, sondern eben auch den Bartwuchs. In früheren Zeiten sah man den Bart als Zeichen der Kraft und als Zierde der Männlichkeit an. In den letzten Jahren oder sogar Jahrzehnten wurde er in die Ecke der Geschichtsprofessoren und vergeistigten Intellektuellen verdrängt. In der Mode hatte er jedenfalls keinen Platz mehr. Bis Hollywood-Schauspieler wie Brad Pitt und George Clooney ihre Haarpracht stolz über den roten Teppich trugen und Werbekampagnen von Luxusmarken plötzlich mit der neuen Männlichkeit spielten. Auch auf den neuen Anzeigenmotiven für Herbst/Winter wird viel Haariges zu sehen sein, vor allem bei Sportswear-Anbietern wie Camel Active, Woolrich und Marc O`Polo. Bei Tom Fords Beauty-Kampagne kuschelt das niederländische Model Lara Stone mit dem bärtigen Top-Designer. Auf die Straße in München, Berlin oder Düsseldorf hat es der Vollbart inzwischen auch geschafft. Die Frage ist jetzt nur, ob die Äußerlichkeit Veränderungen innerer Werte nach sich zieht oder umgekehrt. Und ob wir bereit sind für die neuen Männer. Wahrscheinlich waren es doch wieder wir Frauen, die den Trend gesetzt haben. Denn ja, wir wollen mehr Männlichkeit, mehr Stärke. Dafür würden wir sogar den Müll auch wieder selbst raus bringen.

Sonja Ragaller

Artikel erschienen bei www.anangu.de